Über Jahrzehnte hinweg waren Nachtzüge das logische und preisgünstige Verkehrsmittel, um sicher und einigermaßen bequem größere Entfernungen in Europa zurückzulegen.

Von li. nach re.: Siemens Mobility-CEO Michael Peter, Umweltministerin Leonore Gewessler, ÖBB-Vorstandsvorsitzender Andreas Matthä.
Von li. nach re.: Siemens Mobility-CEO Michael Peter, Umweltministerin Leonore Gewessler, ÖBB-Vorstandsvorsitzender Andreas Matthä. Foto: Marek Knopp/ÖBB


Obwohl die Integration Europas noch nicht so weit fortgeschritten war, überzog ein dichtes Netz an Nacht-verbindungen den Kontinent.

Selbst der sogenannte „Eiserne Vorhang“ zwischen Ost- und Westeuropa war für sie durchlässig. Für eine ganze Generation von Jugendlichen waren Interrail-Ticket und Nachtzüge eine Symbiose:
Man konnte ohne Vorausbuchung und Mehrkosten einsteigen und am nächsten Morgen in einer fremden Stadt aufwachen.

Dann gerieten die Nachtzüge in die Doppelmühle zwischen Billigfliegern und Hochgeschwindigkeitszügen. Das verbleibende Marktsegment  wurde immer kleiner, das Netz weitmaschiger. Es gab kaum noch Investitionen in das Rollmaterial, die Züge wurden immer älter und unattraktiver. Damit setzte sich eine unheilvolle Spirale in Gang, der Niedergang war vorprogrammiert. Als sich dann im Jahr 2016 die Deutsche Bahn vollständig aus dem Nachtzuggeschäft zurückzog, schien der „Point of no Return“ erreicht zu sein: In der Mitte Europas würde eine Versorgungs-lücke klaffen. Mit dem nicht mehr benötigten Personal würde auch Know-how unwiederbringlich verloren gehen.

DIE WENDE NACH DEM NIEDERGANG
Daher war es eine kluge Entscheidung seitens der ÖBB, jene Nachtzugverbindungen der DB, die gut zum eigenen Netz passten, zu übernehmen. Mit übernommen wurden auch Teile des Rollmaterials; leider aber nicht die Belegschaft. Gleichzeitig wurden neue Waggons bestellt. Die ÖBB betrachten das Nachtzuggeschäft ganzheitlich und kamen daher zum Schluss, dass davon die unterschiedlichsten Teile des ÖBB-Konzerns  profitieren könnten; von der Personenverkehr AG, die die Verkehre durchführt, über die für die Wartung zuständigen Werkstätten bis hin zur Schienenmaut für die ÖBB-Infra. Unter diesem Blickwinkel betrachtet, sind die Nachtzüge kostendeckend und tragen nicht unwesentlich zum Umsatz der ÖBB bei.
Innerhalb der Szene wurden die ÖBB-Manager als die neuen Helden der Nachtzüge gefeiert. Und die Stimmung drehte sich: Aus den nostalgischen Zügen, in die nur Freaks, Umweltschützer oder Menschen mit Flugangst einsteigen, wurde – u.a. durch die Klimabewegung – ein cooles Fortbeweg-ungsmittel der Zukunft. Schließlich ist Fliegen – je nach Herkunft des Bahnstroms – vierbiszehnmal klimaschädlicher. Inzwischen gibt es nun endlich wieder einen saisonalen Nachtzug von Wien nach Brüssel. Plötzlich interessierten sich auch viele andere Eisenbahngesellschaften für dieses Produkt. Im Vorjahr wurde eine große Kooperation zwischen den Bahnen in Frankreich, Deutschland, Österreich und der Schweiz zum Ausbau des Nachtzugangebots beschlossen.

Dieses hatte sich als krisenfest erwiesen: Während im Sommer 2020 der Flugverkehr weitgehend darniederlag, betrug die Auslastung der Nightjet-Flotte rund 90 Prozent. Private Schlafabteile werden in Zeiten der Pandemie als sicherer angesehen als enge Flugzeugreihen.

PLÄNE FÜR DIE ZUKUNFT
Sobald die Reisebeschränkungen gelockert werden, fährt der Nachtzug nach Brüssel künftig ganzjährig. Zusätzlich soll es einen täglichen Nightjet von Wien und Innsbruck nach Amsterdam geben. Mit Fahrplanwechsel im Dezember 2021 werden Nachtzüge von Wien wieder nach Paris rollen. Von derzeit 19 soll das Angebot bis 2024 auf 26 Nightjet-Linien anwachsen. Die Zahl der Fahrgäste soll sich von 1,4 Millionen (vor Corona) bis dahin auf drei Millionen verdoppeln. Derzeit werden von Siemens in Wien-Simmering 13 Garnituren gebaut, die ab Fahrplanwechsel 2022 zum Einsatz kommen sollen. Geplant ist der Ankauf weiterer 20 Nightjets. Die siebenteiligen Garnituren der neuen Generation bestehen aus zwei Sitzwagen, drei Liegewagen und zwei Schlafwagen. Insgesamt gibt es in jedem dieser Halbzüge Platz für 250 Fahrgäste. In den Liegewagen werden Minisuiten für Alleinreisende (siehe Bild unten) noch mehr Privatsphäre bieten, die gewohnten Abteile werden nur noch vier Liegen aufweisen. Im Schlafwagen verfügen zukünftig die Abteile nur noch über zwei Betten. Auch die Standard-Abteile werden eine eigene Toilette und Duschmöglichkeit im Abteil haben. Auch Deluxe-Abteile wird es – in einem neuen Design und mit größerem Platzangebot – weiterhin geben. Durch Videoüberwachung der Gänge soll die Sicherheit in den Zügen deutlich verbessert werden. Ein Multifunktionswagen mit Nieder-flureinstieg für mobilitätseingeschränkte Reisende und Fahrradmitnahme soll eine deutliche Verbesserung bringen. Kostenloses WLAN ist auch vorgesehen. Dieses Rollmaterial soll nicht nur die ältesten Waggons ersetzen, sondern auch eine weitere Ausweitung des Angebotes möglich machen. Leider wird es auch in den neuen Zügen keinen Speise- oder Buffetwagen geben.


EINE EUROPÄISCHE INITIATIVE IST NOTWENDIG!
Glücklicherweise haben die ÖBB in den vergangenen Jahren an die Zukunft der Nachtzüge geglaubt und können den derzeitigen Trend für eine weitere Expansion nützen. Im manchen Ländern existiert noch ein dichtes und funktionierendes Nachtzugsystem, in anderen nicht. Schon 2016 hat das Bündnis „Bahn für Alle“ einen europaweiten Netzplan mit aufeinander abgestimmten Nachtzugverbindungen ausgearbeitet, mit denen eine flächendeckende Erschließung möglich wäre. Da die Bürger*innen nichts für die Fähigkeiten bzw. Unfähigkeiten ihrer Staatsbahnen können, sollte EU-weit ein solches Nachtzugnetz definiert (Festlegung von Relationen, attraktive Trassen zu erschwinglichen Gebühren usw.) und an interessierte Bahngesellschaften vergeben werden.

Notwendige Zuschüsse könnten ruhig aus dem EU-Budget kommen. Gleichzeitig ist eine EU-weite Kerosin-besteuerung mehr als überfällig. Weitverbreitetes Sozialdumping hat Fliegen zu einer billigen Massenware gemacht. So verzeichnete allein der Flughafen Wien-Schwechat im Jahr 2019 31,7 Millionen Fluggäste. Davon flogen mehr als vier Fünftel zu Reisezielen innerhalb von Europa. Das Potenzial für Nachtzüge ist also gewaltig. Mit schnellen Eisenbahntrassen und neuen Garnituren könnte man in einer Nacht Entfernungen von 1.500 Kilometern und mehr bewältigen. Ein Blick auf die Landkarte zeigt: Von Wien aus sind in diesem Radius Stockholm, London, die französische Atlantikküste, Valencia, Barcelona, Palermo, Athen und alle osteuropäischen Länder zu erreichen. Die Möglichkeiten müssen nur genutzt werden.

Foto: ÖBB